Bevor die Ringbahn zur Ringbahn wurde, war es eine S-Bahn Teilstrecke am Rande des neuen Ost Berlins. Ich kannte fast niemanden, der damit fuhr, da niemand sich weiter als Mauerpark, Tempelhof (damals noch Flughafen) oder die Gedächtniskirche traute.
Ich aber schon. Ich sah diese S-Bahn damals als Abenteuer. Ich würde jedes Mal einsteigen im Bahnhof Schönhauser Allee oder Greifswalder Straße und staunen wie ein anderes Zeitfenster aufging, wenn die Türen sich schlossen. Plötzlich wurde ich direkt nach Bukarest transportiert. Es gab immer bunte, interessante Menschen im Zug – der Überrest von was Berlin einmal war und ohne eine Ahnung was es einmal sein wird.
Ich fand es spannend. Wie in einer Achterbahn, wenn man gerade den Gipfel des steilsten Hügels erreicht hat, kurz bevor es losgeht und gar nicht weiß, ob man das ganze überleben wird. Man hofft immer, dass der TÜV gründlich war.
Neulich hatte ich ein Vorstellungsgespräch. Die kommen bei mir gar nicht so oft vor und ich musste deswegen an mein letztes denken – es war vor ungefähr 10 Jahre. Damals war das ein Vorstellungsgespräch bei einer Presseagentur in Frankfurt. Ich trug einen Anzug. Hugo Boss. Schwarz. Hatte ihn schon eine halbe Ewigkeit.
Nach dem Gespräch flog ich Heim, also nach Berlin. Als ich durch den Frankfurter Flughafen lief, diskutierten die Stimmen in meinem Kopf scharf miteinander. Und falls du schon mal im Frankfurter Flughafen warst, dann weißt du, dass die Stimmen sehr viel Zeit miteinander hatten. Fliegen ist nur ein Nebengedanke vom Frankfurter Flughafen. Laufen ist die Hauptattraktion.
„Mensch“, sagte ich zu mir selber. „Zieh doch den Frack aus!“
„Hä?“ erwiderte ich. „Warum?“
„Du fliegst doch nach Berlin“, erklärte ich mir. „In Berlin trägt keiner außer der FDP Anzüge! Willst du so aussehen? Und außerdem, wo ist überhaupt unser Gate?“
„Quatsch. Berlin ist doch eine Weltstadt. Viele tragen Anzüge. Und es geht hier um mich und ich wohne seit Jahren in Berlin. Wenn einer im Anzug in Berlin, dann ich. Und: Wenn tatsächlich niemand einen Anzug in Berlin trägt, dann ist das Anzugtragen Hardcore.“
Ich hatte schon längst aufgehört mir selber zu zuhören. Und trug noch den Anzug.
Als ich im Flieger saß, hatte ich etwas Grummeln im Bauch, das gleiche Grummeln, wie wenn man nicht weiß, ob man den Ofen ausgemacht hat oder nicht. Habe ich gerade den ganzen Wohnblock wegen einer Tiefkühlpizza abgefackelt?
Das Gefühl hatte ich immer noch, als ich in Berlin landete und ich vom Flieger in den Bus und dann in die Ringbahn stieg. Ja, Bus und Bahn und dann auch noch in die Tram um nach Hause zu kommen. So wahnsinnig zentral ist Berlins Zentralflughafen, Tegel. Entweder Bus, Bahn und Tram oder ein 30 € Taxi.
In der Ringbahn kamen die Stimmen wieder.
„Dude, hättest du den Anzug lieber im Gepäck verstaut.“
„Ja, ich glaube, du hattest Recht.“ Ich musste mir plötzlich selber Recht geben. Die Ringbahn schien eine Allergie auf Anzüge zu haben. Klar, Berlin war immer eine Stadt der Arbeiter. Naja, bis zur Wiedervereinigung. Jetzt sind es hauptsächlich Kaffeetrinker.
Genau dann hörte ich noch eine Stimme aber diesmal von außen. Es waren zwei Punks, die gerade den Gang hinunterliefen. Das Laufen sah eher aus wie kontrolliertes nach-vorne-fallen. Sie diskutierten, wo sie sich hinsetzen sollten.
„Lass uns hier sitzen“, sagte der eine, als er mich sah. „Hier neben Chef.“ Glücklicherweise gab es immer noch den Gang zwischen uns. Seine weibliche Begleitung nahm Platz zwei Reihen weiter hinten. Sie war damit beschäftigt, irgendetwas zu verdauen, was sie sich kurz zuvor ins Gehirn geschossen hatte. Sah nach viel Arbeit aus.
Er lächelte mich an und ich erinnerte mich selbst daran, dass ich mir zum Anzug Auszug geraten hatte. Da ich ziemlich paranoid bin, hoffte ich auf einen leichten Überfall. Portemonnaie weg. Handy weg. Vielleicht nur einige blaue Flecken. Ich hoffte, es würde auf etwas weniger als Mord hinauslaufen. Ich hatte ja Frau und Kinder.
„Na Chef?” sagte er. Ich habe bestimmt gezuckt und versuchte, die letzten Augenblicke meines Lebens zu genießen.
Punks in der Ringbahn
Als die Ringbahn ins Rollen kam, fing er an zu beatboxen, was mir komisch vorkam.
„Seit wann beatboxen Punks?” fragte ich mich.
Als die Ringbahn dann schneller wurde, kam Freestyling hinzu.
“Wo sitzt der Boss?
Da sitzt der Boss!
Wer ist der Boss?
Der ist der Boss!.
Bin ich der Boss?
Nein! Er ist der Boss!“
Es ging eine gefühlte Stunde so weiter. Ich war zu gleichen Teils beeindruckt über sein Talent und besorgt über meine Zukunft. Er lächelte dabei alle an. Mich. Seine Begleitung. Die anderen Mitreisenden.
Den Mitreisenden ging es wahrscheinlich ähnlich wie mir. Sie dachten alle, „Unterhaltsamer Rap. Und der Typ im Anzug ist gleich dran. Was für ein Idiot, wer zieht einen Anzug an in Berlin? Ich meine, außer der FDP?“
Ich stieg bei der nächsten Gelegenheit aus und nahm ein 30 € Taxi.
Wie jemand von der FDP.
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